Gilbert Fels
Wachstumsprozesse

warum immer / wie immer / ob sie dir auflauern, sich dir in den Weg stellen, dich etwa
zum Aufräumen zwingen, um sich so finden zu lassen / unübersehbar, unübergehbar
endlich somit / oder sich eines äußeren Anlasses bedienen / ihre vielleicht minimale
synaptische Präsenz, über oft Jahre bewahrt, jetzt zumindest kurz aufblitzen zu lassen /
Halt! Da wäre noch was! Spürt sich was! Spürst du was! / eine Unwucht, Druckstelle,
Einkapselung im Gedächtnisgewebe / Aufmerksamkeit verlangend jetzt jedenfalls,
Widmung, Zuwendung / mit vielleicht wachsender Dringlichkeit / etwas Ungeklärtes,
Hinterbliebenes deiner geistigen Bahn / jedoch alles andre als tot / eine Sache, nicht zu
Ende gebracht / warum immer / ein Unruheherd / etwas, dem noch etwas fehlt: das
Entscheidende.

Rom, Ende der 80er Jahre, verabredet, an der Ponte Vittorio Emanuele, sommerlich,
spätnachmittags / sie kommt nicht / eine Viertel-, eine halbe, eine Dreiviertelstunde
über der Zeit / vis-à-vis staut sich, baut sich je bei Rot eine Menschenmasse auf / bei
jeder die Hoffnung, sie wäre dabei / schreib das auf!

Eine Keimzelle, immer wieder mir in die Gedanken geraten, bald zwei Jahrzehnte
lang / ich mußte nicht lange suchen, um mir, an eigenem Beispiel, ein solches
Wiederaufnehmen vor Augen zu führen / dieser Kern, andere nicht, warum? da du
doch Etliches nicht zu Ende geführt, liegen gelassen, verworfen hast, auch vergessen /
das eine oder andere andererseits wieder aus dem Papierkorb geholt / diese offene Stelle
/ wunder Punkt? / blieb / warum?

Ich habe diese Papiere also wieder hervorgeholt / obwohl ich vor zwei Jahren eine
Fassung fertiggestellt habe, die noch immer Bestand hat in meinen Augen / weshalb sich
mein Beispiel in zweifacher Hinsicht als geeignet erweist / es erfüllt die Bedingung /
und ich kann schon spekulieren über das Ende eines solchen Prozesses /
jene ersten Notizen also wieder hervorgeholt, um den Gang dieser Dinge, in groben
Etappen zumindest, zu rekonstruieren / es ist nicht ohne Reiz, die drei, vier leicht
vergilbten getippten Seiten wiederzusehen / in der Courier der alten, schwarzen,
mechanischen Orbis / Korrekturen in überwiegend Blei, etwas Tinte / und eine Seite
Handschrift / wie sie sich verändert hat!

Das Programm / schien damals, darzustellen und zu klären, woran bzw. an wie wenigen
visuellen Details man eine bekannte Person erkennt, die von ferne in einer Menge
auftauchen sollte / ein Versuch über Identität also vielleicht / Identifikation einer Frau
/ um es etwas zu überhöhen / erste, unbeholfene Zeilen dazu /doch die Sache blieb
liegen.

Also Dinge, an die noch Gedanken-, noch Handarbeit zu legen ist / kannst du nun also,
nach Jahren, weitergekommen mit dir, ein altes Problem endlich lösen / hinzufügen,
was noch fehlte / also im Wortsinn vollenden? / oder haben sich dir die Kriterien,
weitergekommen mit dir, so verändert, dass du diese Arbeit / die noch einmal dir
vorzunehmen jetzt zwar unumgänglich geworden ist / in eine ganz andere, damals noch
nicht gesehene oder intendierte Richtung treibst / sie also zum Ausgangspunkt eines
Neuen machst / sie wäre dann mithin ein Drittes, jedoch nicht eigentlich Vollendung
eines ersten Ansatzes.

Worauf es mit meinem Römischen Torso hinauswollen könnte, blieb lange mir unklar /
das Thema veränderte und erweiterte sich mit der Zeit / immer wieder aber eben
reklamierte es Aufmerksamkeit / zum Aspekt des Identifizierens kam der andre hinzu,
was das Warten mit dir macht, wie sich, auf einer Skala von heiterer Geduld über
Unruhe, Ärger, Empörung, Enttäuschung, Entrüstung, Angst, Besorgnis, Verzweiflung
deine innere Temperierung verschiebt / mit dem abnehmenden Nachmittagslicht /
aber noch immer keine Ausarbeitung, kein Text.

Wie immer, man stellt sich und steht und sieht sich in einer Diskussion mit sich selbst /
die von Bedeutung ist / denn hier scheinen grundsätzlichere Dinge berührt / geht es um
Wurzeln, um das Werk? Welcher Art Schwierigkeit war es, die dich die Sache hatte
abbrechen lassen? Siehst du nun klarer? Darin? Überhaupt in deinem künstlerischen
Wollen? Welche Frage war denn eigentlich gestellt? Ganz offenbar eine, die noch
virulent ist, Relevanz hat für dein Tun.

Aber / wenn du jetzt weitere Hand anlegst an diese Sache und einen Plan hast, wohin
du sie treiben willst / wie flogen, flossen, wuchsen die Überlegungen, Gedanken,
Entscheidungen, die dich jetzt arbeiten lassen, dir zu? Es ist klar, dass die inzwischen
verflossene Zeit dafür entscheidend war, subkutan hat sich die Sache in dir, hat sich an
der Sache etwas bewegt / zumindest indirekt insofern, als dein weiterer Weg dir
Erfahrungen eintrug, die nun greifen, eingreifen, mitwirken, vielleicht sogar den
Ausschlag geben / für die Modifikationen, die du nun vollziehst / von denen vielleicht
nicht in jedem Fall klar ist, ob sie den wirklichen Abschluss bringen der Arbeit / oder ob
nicht immer noch Schritte zu gehen bleiben auf diesem Weg / die aber jetzt ein neues
Stadium erreichen / Wachstumsprozesse / mit definitem Ausgang.

Einmal mehr zieht mir / müßigstehend / von Palästen, Veduten, dem Himmel darüber,
Schwalben, der Brücke, Wellen / ein Schwall der längs der Flußpromenade
unabhersehbar strömenden Masse/Menschen / aus mehreren Quellen gespeist / den
Blick ab / und auf sich / da diese Passantinnen und Passanten der Imperativ einer
Ampel zu beträchtlicher Tiefe staut /
Ein Ausgangspunkt, ein Endpunkt, und sei er nur vorläufig / und was auch immer die
Wiederaufnahme, Weiterentwicklung ergeben hat, eines zeichnet sie aus: sie schreibt
nicht einfach ein Werk fort / das tut sie vielleicht auch / jedenfalls aber stellt sie zugleich
eine Standortbestimmung dar / zwei Punkte spannen eine Linie auf / eine
Entwicklungslinie / wie direkt oder umweghaft immer / dennoch läßt der Abstand
zwischen zwei Punkten sich messen / ermessen zumindest, wohin dich die Zeit gebracht
hat / respektive der Weg.

Der für alle hier gezeigten Arbeiten an derselben Stelle endet / all das, was diese
Blasenflieger, Bodenroller, Kletthafter, Körnchenflieger, Regenschwemmlinge,
Saftdruckstreuer, Schraubenflieger, Steppenroller, Tierballisten, Wasserhafter an in
ihnen angelegten Möglichkeiten entfalteten / in der Gunst des Moments / mittels eines
bißchen Lichts und Feuchtigkeit / und künstlerischer Anstrengung und Reifegrade /
alle diese Arbeiten datieren ausschreibungsgemäß aus demselben Jahr / was mich den
Titel dieser Ausstellung modifizieren lässt / Zeichnung 2019, eine Positionsbestimmung.

Zur Eröffnung der Ausstellung der Linienscharen „Blasenflieger“ (und Artverwandte)
am 20. Oktober 2019 in der Städtischen Galerie im Kornhaus, Kirchheim unter Teck.
Copyright beim Autor.